Wahre Lebenskunst

 

Ich meditiere jeden Morgen in unserem Garten. Bei jedem Wetter, eingehüllt in eine dicke Decke, wenn sich die Kinder auf den Weg zur Schule gemacht haben und die erste große Hürde des Tages genommen ist. Heute morgen war’s besonders schön, ein Erlebnis von Frieden, Einsicht und großer Stille. Ich war glücklich.

Und schon begann mein rastloser Geist nach Wegen zu suchen, diese äußerst angenehme Erfahrung festzuhalten. Warum war’s gerade heute so gut? Was hatte ich richtig gemacht? Saß ich besser als sonst? Hatte ich die richtigen Techniken angewandt?

Wie schön wäre mein Leben, so dachte ich mir, wenn meine Meditation jeden Morgen derart erfüllend sein könnte. Wenn ich Mittel und Wege fände, um mein ganzes Leben in diesem Zustand zu verbringen.

Ja, so sind wir Menschen, seit wir seinerzeit in Eden heimlich vom Baum der Erkenntnis genascht haben, was die unmittelbare Vertreibung aus dem Paradies des „einfach seins“ zur Folge hatte. Immer auf der Suche nach dem Glück. Immer auf dem Weg irgendwohin.

Dabei ist es eigentlich recht einfach: Kein Tag ist wie der andere, genau wie das Wetter, so wechseln auch im hochkomplizierten System unseres ICH ständig alle Parameter und damit unser Zustand. Ketten von äußeren Umständen, unseren Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen sowie den natürlichen Zyklen von Körper und Geist verbinden sich zu einem sich dynamisch verändernden Lebensgefühl. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, oft genug von Minute zu Minute. Guten Phasen wechseln sich mit weniger angenehmen ab. Dagegen können wir nichts tun. Gar nichts. Was uns oft große Kopfschmerzen bereitet.

Die (Er)Lösung dieses allzu menschlichen Dilemmas liegt im Annehmen. Die Christen sagen dazu „Dein Wille geschehe“, die Buddhisten heißen mit ihrer sprichwörtlichen Gelassenheit alles willkommen, ohne zu werten (und ich bin mir sicher, alle anderen spirituellen Wege haben ebenfalls schlüssige Konzepte für den Umgang mit dem Auf-und-Ab des Lebens). Denn Leid entsteht nicht durch die natürlichen Fluktuationen unseres Daseins, sondern durch die Antwort unseres Geistes darauf, die Geschichte, das Drama, das wir darum inszenieren.

Jeder Tag ist anders, und ein wichtiger Schritt für ein Leben in Leichtigkeit und Frieden besteht darin, die schwierigen Phasen, unseren Schmerz, unsere Angst, unsere Frustration (die Liste ließe sich hier beliebig fortsetzen) mit offenem Herzen anzunehmen. Sie wahrzunehmen, ohne gleich in eine destruktive Story aus sich gegenseitig hochschaukelnden Emotionen und Gedanken einzusteigen. Einen heilsamen kleinen Abstand dazu zu gewinnen: Denn auch sie sind flüchtige Erscheinungen auf der zeitlosen Leinwand unseres Bewusstseins, das unberührt bleibt von den Auswüchsen unseres Verstandes und den Gebrechen unseres Körpers.

Ob Freude oder Schmerz, ob Glück oder Trauer: Wir können alles aus der Tiefe unseres Seins aufsteigen lassen, damit es sich an der Oberfläche zeigt und sich dann wie eine Luftblase auflöst. Mit einem Lächeln. Das ist wahre Lebenskunst.