Nataraja – Der kosmische TAnz

 

Bei meinem ersten Besuch in Indien kaufte ich mir in einem der kleinen Läden an der Strandpromenade eine Statue des Shiva Nataraja, die mich magisch anzog. Ich wusste damals nichts über indische Mythologie, war aber sofort fasziniert von der anmutigen Gestalt des kosmischen Tänzers im Flammenrad.

Heute – fast zwei Jahrzehnte später – gehört die Geschichte des Nataraja zu meinen Lieblingserzählungen und ist fester Bestandteil meiner Ausbildungsprogramme. Die kleine Statue hat ihren Platz auf dem Altar in meinem Yoga-Raum gefunden und erinnert mich immer wieder daran, dass wir lernen müssen, mit dem Leben fließen. Dass wir ein vollkommener Ausdruck des Göttlichen in dieser Welt sind. Und dass es an uns ist, die Schwierigkeiten des Lebens lieben zu lernen, um den Ananda Tandava, den Tanz der Glückseligkeit, zu erfahren.

DIE GESCHICHTE DES ANANDA TANDAVA…

 … beginnt in einem heiligen Wald nahe der Stadt Chidambaram, wo heute der berühmte Tempel des Shiva-Nataraja steht. Dort lebt eine Gruppe Rishis, weiser Männer, mit ihren Frauen. Sie frönen voller Ehrgeiz einer sehr rigiden Praxis, die auf allerlei magischen Ritualen basiert und ihnen so manch erstaunliche Fähigkeit verleiht. Ihrem Yoga fehlt es jedoch an Mitgefühl, Liebe und Leichtigkeit, so dass Shiva, als oberster Hüter der Praxis, eines Tages zu seinem Freund Vishnu spricht: „Es ist an der Zeit, sie auf den rechten Weg zu bringen. Komm mit mir, wir wollen ihnen eine Lektion erteilen.“ 

So kommt es, dass die beiden göttlichen Freunde in der Gestalt eines äußerst attraktiven Paares den Wald betreten: Shiva als gutaussehender Asket, Vishnu als die anmutige, wunderschöne Mohini.

Schon bald entsteht Unruhe im Wald: Die Frauen der Rishis sind über alle Maßen fasziniert von Shiva in seiner asketischen Schönheit, und auch die verführerische Mohini sorgt für zu viel Ablenkung in der täglichen Sadhana. Erbost beginnen die gestrengen Weisen, Shiva mit alllerlei Beschimpfungen und Flüchen zu belegen, um ihn aus ihrem Wald zu vertreiben. Als dieser nur lächelt, steigert sich ihr Zorn ins Grenzenlose: Sie schleuderten ihm giftige Kobras entgegen, um ihn endlich in die Flucht zu schlagen.

Shiva jedoch zähmt die heranfliegenden Schlangen mit einem einzigen Blick aus seinem dritten Auge und legt sie sich als Girlande um den Hals. Auf den Darstellungen des Shiva-Nataraja kannst Du sehen, wie sich Kobras um seinen Hals und durch seine Haare winden.

Voller Wut hetzen die Rishis mit ihren magischen Kräften nun einen reißenden Tiger auf ihn. Shiva häutet die Raubkatze mit dem Nagel seines kleinen Fingers und windet sich ihr Fell lässig als Lendenschurz um die Hüften.

Völlig außer sich feuern die Weisen jetzt ihre doppelseitige Damaru-Trommel nach Shiva, doch er fängt sie mühelos in seiner rechten Hand und beginnt, darauf den Takt des Lebens zu schlagen. Sie schleudern ihm Feuerbälle entgegen – er fängt sie mühelos in seiner linken Hand und lässt die Flammen hell in seiner Handfläche lodern.

Als letzten Versuch greifen sie schließlich zur allergefährlichsten Waffe, Apasmara, dem teuflischen kleinen Dämon der Unwissenheit. Er ist der Schleier der Verblendung, der uns unsere wahre, göttliche Natur vergessen lässt.

Shiva jedoch fängt ihn elegant unter seinem Fuß und beginnt, auf ihm zu tanzen. Um ihn herum lodern Flammen auf, seine Haare fliegen, sein Lachen hallt durch den Wald. Er tanzt den Ananda Tandava, den kosmischen Reigen der Glückseligkeit. Er tanzt den ewigen Zyklus von Werden und Vergehen. Er tanzt das Leben selbst, in all seinem Licht, all seinen Abgründen. Ekstatisch und frei tanzt das Absolute Bewusstsein im Flammenmeer.

Wie alle mythologischen Geschichten, handelt auch diese von dir selbst. Wir alle tanzen den Ananda Tandava, den kosmischen Reigen von Werden und Vergehen – denn „es gibt nichts, das nicht Shiva ist“, wie es im Svacchanda Tantra heißt. Wohin immer Du blickst, was immer Du denkst oder fühlst, es ist nichts anderes als das EINE Absolute. Es lebt durch dich, als du. Und ebenso durch und als alles andere, was du wahrnehmen kannst. Erkenne dich in deiner wahren Natur, dieses Leben tanzend, glückselig und frei.

DIE IKONOGRAFISCHE BEDEUTUNG DES NATARAJA

Die Figur des Shiva Nataraja hat – wie so viele indische Götterdarstellungen – vier Arme. Wörtlich übersetzt bedeutet Nataraja: „König (raja) des Tanzes (nata)“. Der kosmische Tänzer symbolisiert den ewigen Zyklus von Werden und Vergehen, der sich – bis hinunter auf die kleinste, subatomare Ebene – in jedem Moment abspielt, im Großen wie im Kleinen. Zellen werden in Dir geboren und sterben, während Du diese Zeilen liest, Galaxien entstehen, Sterne verglühen. Ein Gedanke taucht in Deinem Bewusstsein auf – und vergeht.

Der Shiva-Nataraja vollzieht in seinem Tanz fünf Akte, die die elementaren Aspekte des menschlichen Lebens darstellen. Wir alle sind dieser kosmische Tänzer, der unentwegt den Takt des Lebens auf der Trommel schlägt. Shivas obere rechte Hand hält die Damaru-Trommel und symbolisiert den Akt der Schöpfung, den Herzschlag des Lebens. Die zweite rechte Hand ist in Abhaya Mudra, der Geste der Furchlosigkeit, erhoben. Sie steht für Erhaltung, Bewahrung.

Seine obere linke Hand hält das Feuer. Sie symbolisiert Wandlung, Auflösung. Der Zyklus von Manifestation, Erhaltung, Auflösung… doch was bedeutet die vierte Hand?

Sie ist besonders interessant, kreuzt und verdeckt sie doch das Herz und weist gleichzeitig hinunter auf den erhobenen Tanzfuß. Sie symbolisiert das ewige Spiel von Ver- und Enthüllung, das ich in meinem Buch „DAS GROSSE JA ZUM LEBEN!“ (Kapitel 3 / Hinter den Schleier blicken) beschreibe. Im Tanz des Lebens erliegen wir der Illusion des kleinen, getrennten Selbst und vergessen unseren göttlichen Ursprung. Deshalb verdeckt die untere linke Hand Shivas Herz. Gleichzeitig weist sie jedoch hinunter zum Tanzfuß, dem Lotusfuß des Gurus, in der indischen Tradition Symbol der Gnade und des Erwachens. Sie weist uns den Weg der Erkenntnis.

Wir allle vollziehen diese fünf göttlichen Akte in jedem Moment, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht. Wir alle tanzen im Reigen des großen göttlichen Spiels von Werden und Vergehen.

Lasst es uns zu einem ausgelassenen Tanz der Freude, der Glückseligkeit, des Staunens machen. Auch wenn das Leben zuweilen einem lodernden Flammenmeer gleicht. Lasst uns jeden Moment auskosten, der uns geschenkt ist.