Hinter den Gittern des Geistes

 

Auf meinen (recht seltenen) Jogging-Ausflügen halte ich stets auf der Großhesseloher Brücke, um am Geländer meine Muskeln zu dehnen. Der Blick gen Süden übers Isartal ist traumhaft schön, nur der Käfig, mit dem die Brücke aus Sicherheitsgründen eingefasst ist, stört. Und so stecke ich jedes Mal meine Nase durch die Gitterstäbe, damit ich sie aus meinem Sichtfeld ausblenden kann. Viel besser so.

Genauso, denke ich dann, verhält es sich mit unserem Geist: Unser Blick auf’s Leben ist stets getrübt vom Gitter unserer Ideen und Meinungen. Wir sitzen im selbstgebauten Käfig unserer Urteile und Konzepte, eingeengt und beschnitten durch mannigfache Konditionierungen und Muster.

So lange haben wir durch die Stäbe gestarrt, dass wir gar nicht bemerken, dass die Tür zu unserem Gefängnis weit offen steht. Wir haben in jedem Moment die Wahl, uns für einen frischen, offenen Blick auf’s Leben zu entscheiden.

Der Schlüssel hierzu liegt in der Achtsamkeit. Im aufmerksamen und wertfreien Beobachten unseres Geistes, wie wir es in der Gewahrseins-Meditation praktizieren. In unserer Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment anzunehmen ohne zu beurteilen, dem Spiel des Lebens einfach beizuwohnen, ohne irgendetwas zu müssen oder zu wollen. Das ist der Weg in die Freiheit.

Keine Ahnung, was Rilke von östlicher Spiritualität wusste. Aber – beabsichtigt oder nicht – sein Gedicht über den Panther, das mich seit jeher mitten ins Herz getroffen hat, ist die wunderbarste und traurigste Beschreibung unseres menschlichen Dilemmas, die ich kenne.

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Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

(Rainer Maria Rilke, 1907)